Unsere zehn Lieblingstitel 2023

Nach den Bestsellern 2023 wollen wir unsere persönlichen Lieblingstitel aus diesem Jahr nicht vorenthalten. Viele alte Bekannte, aber auch Newcomer sind mit dabei und besonders schön war es, bei der Lesung und Buchpräsentation einzelner Titel mit dabei gewesen zu sein.
Wie immer fehlen einige wichtige Titel, schreibt uns gerne, was Euch überzeugt hat.

Gesine:

»Genossin Kuckuck« – Anke Feuchtenberger (Reprodukt)
Der Einfluss von Anke Feuchtenberger auf den Comic und auch auf unsere Laden-DNA ist riesig. Und das Warten auf das neue Werk »Genossin Kuckuck« hat sich mehr als gelohnt. Es fasziniert auf so vielen Ebenen – tut körperlich weh und ist gleichzeitig versöhnlich. Beeindruckend wie sich das Figuren-Ensemble der Geschichte trotz der Zermürbung durch Umstände und Grausamkeiten von Zeitgeschichte und Gesellschaftsklima kleine Inseln der Befreiung erschafft. Rebellion im Kleinen führt zu Widerständigem im Großen. Intensiv bis zur Schmerzgrenze. Ein Leseerlebnis, was man nicht missen sollte. Ein künstlerisches Ereignis sowieso.

»Alison«– Lizzy Stewart (Fantagraphics Comics)
Ein sehr schöner Titel über eine feministische Selbstfindung durch Befreiung aus den Abgründe des Londoner Kunstbetriebs. Absolut kein platter Abgesang, sondern eine Geschichte mit viel Tiefe und wenig Scheu vor der Anerkennung unauflösbarer Widersprüche. Kraftvolle Bilder und komplexe Figuren zeichnen es aus. Tollerweise wird dieser besondere Fantagraphics Titel nächstes Jahr im Helvetiq Verlag erscheinen.

»Clementine, Book Two« – Tillie Walden (Image Comics)
Tillie Walden ist nach wie vor extrem produktiv und nun auch im Horrorgenre beheimatet. Für DIE Zombieserie »The Walking Dead« hat sie ein äußerst lesenswertes, queeres Spin-Off erschaffen. Der zweite von drei geplanten Bänden ist vor wenigen Wochen erschienen und begeistert durch die Verhandlung der ganz großen Lebensfragen. Alles im Setting einer permanenten Bedrohung durch Zombiehorden. Wie die Menschlichkeit bewahren, wenn die Welt um einen herum untergeht?

»Koma« – Mazlum Nergiz & Leonie Ott (März Verlag)
Der Dramaturg Mazlum Nergiz (Maxim Gorki, Schauspiel Hannover) hat zusammen mit der Künstlerin Leonie Ott sein Theaterstück als Comic umgesetzt. Und tatsächlich zeigt sich diese besondere Entstehungsgeschichte auf gute Weise. Die Erzählstruktur ist erfrischend anders und die raue Offenheit durch sperrige, wilde Bildkompositionen sehr spannend und konsequent in Szene gesetzt. Eine intensive Geschichte über den Neuanfang nach einem krassen Verlust.

»Glitch« – Shima Shinya (Yen Press)
Eine neue Stadt und verstörende Erlebnisse. Mangaka Shima Shinya legt eine charmante Coming-Of-Age Story mit surrealem Twist vor. Ein Detektivclub um die Geschwister Minato und Akira Lee versucht den unheimlichen Rissen in der Welt nachzuspüren. Die Ursachen liegen im Dunkeln und machen Angst, aber die gemeinsame Suche schweißt zusammen. Angelegt auf vier Bände verspricht der Start der Mini-Serie großes Kino.

Hans:

»Monica« – Daniel Clowes (Fantagraphics)
Clowes ist einer der Urväter des Indiecomics, ohne dessen Einfluss viele Bücher, die bei uns im Laden stehen, möglicherweise nicht existieren würden. Mit Monica, der Erzählung einer Lebensgeschichte in neun Episoden, legt er erneut ein zentrales Werk (der Comicgeschichte) vor. Die komplexe Geschichte entfaltet sich vollständig erst beim mehrmaligen Lesen. Clowes Stärke, sich tiefgehend mit den Wirrungen der menschlichen Psyche und komplizierten sozialen Beziehungen zu beschäftigen, kommt voll zur Geltung. Man merkt dem Buch den siebenjährigen Entstehungsprozess auf jeder Seite an, das Lesen ist Herausforderung und Vergnügen zugleich.

»Blood of the Virgin« – Sammy Harkam (Reprodukt / Pantheon)
Ähnlich wie bei Dan Clowes war das Lesen von Blood of the Virgin für mich eine schöne Zeitreise, da Sammy Harkam an bestimmte Traditionslinien anknüpft, die mich in denn 90ern zum Comic brachten. Auch wenn man sich für die Grindhouse Movie Szene in der 70ern nur bedingt interessiert, findet Harkams Expertise (u.a. ist er Herausgeber der einflussreichen Anthologie Kramers Ergot), eine Entsprechung in seiner einfachen und präzisen Art Comics zu machen. Seine eigene Beschreibung des Mediums ist Empfehlung für das Buch genug:
„Comics, at their best, are the ideal medium to get a deep, unbleached view inside the mind of another person. Marks on paper go beyond language itself. The drawing is the end point of something that starts in the subconscious… The authorial voice of a cartoonist has a rawness and clarity that is almost unnerving. The work will invevitably reveal more than the artist wants to share.“ (Auszug aus einem Interview mit Harkam im New Yorker).

»Why don’t you love me?« – P.B. Rainey (Drawn & Quarterly)
Eine fast unerträglich erscheinende Liebesgeschichte nimmt eine komplett unerwartete Wendung. Rainey gelingt es in dieser dunklen Komödie mit raffiniert komponierten Plot, Fragen nach individueller Entfaltung und verpassten Möglichkeiten auszuhandeln. Eine Geschichte über Beziehungen, Alkoholismus und Depressionen schaut klug auf den einzelnen Menschen und zugleich auf die verrückte Welt, in der er leben muss.

»Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung« – Barbara Yelin (Reprodukt)
Die Münchner Comiczeichnerin Barbara Yelin sprach in einem Zeitraum von vier Jahren immer wieder mit Emmie Arbel, um ihre Geschichte weitererzählen zu können. Arbel überlebte den Holocaust und wanderte über Umwege nach Israel aus, wo sie heute noch lebt. Die Graphic Novel nähert sich diesem fast unglaublichen Lebensweg sorgfältig und bedacht. Dieser Ansatz machen das Buch zu einem besonderen und herausragenden Buch der Erinnerungsliteratur und wir freuen uns sehr, dass wir es vor kurzem in einer gemeinsamen Veranstaltung in Hamburg vorstellen konnten.

»I must be dreaming« – Roz Chast – (Bloomsbury)
In ihrem neuen Buch zeigt Roz Chast uns nicht nur ihre eigenen Träume, sondern unternimmt auch einen kulturgeschichtlichen Parforceritt durch die Traumdeutung. Wie in ihren vorherigen Titeln dient ihr wirklich umwerfender Humor nicht allein zur Unterhaltung, sie lotet damit auch ernste und tiefgehende Fragen aus.
Wunderbar weird, witzig und klug.

Unsere zehn Lieblingstitel 2022

Was war das wieder für ein crazy Comicjahr! So viele beeindruckende Neuveröffentlichungen. Da fällt die Auswahl sehr schwer. Die Liste könnte auch locker 30 Titel umfangen. Hier wollen wir euch zehn Titel ans Herz legen, die uns ganz besonders berührt haben und die Eure Aufmerksamkeit verdienen, falls Ihr sie bisher verpasst haben solltet.

Gesine:

»Madame Choi und die Monster« – Sheree Domingo & Patrick Spät (Edition Moderne) _ Hach, was für ein Comic! Und nicht nur einer – es ist auch noch ein Comic im Comic. Das Buch ist wunderschön gestaltet – mit Poster als Umschlag und mit einer Optik, die perfekt zum Inhalt passt. Mit Liebe zum Detail. Toll recherchiert und geschrieben und für alle Leute, die sich für Zeitgeschichte interessieren ein Muss.

»Baby Blue« – Bim Eriksson (Luftschacht) _ Als Margarete Atwood Fan bin ich natürlich immer interessiert an dystopischen Geschichten. In diesem Comic aus Schweden ist die pandemische Grundstimmung und die damit einhergehende Beschäftigung mit unser aller psychischer Gesundheit klug in einen rasanten Thriller verpackt. Inklusive Widerstandsbewegung und anderer wichtiger Themen.

»Mina« – Matthew Forsythe (Rotopol) _ Ein entzückendes Buch. Mina ist ein kleiner Buchnerd, sehr schlau und leicht introvertiert (und eine Maus). Aber wenn da doch was nicht stimmt in der Außenwelt, dann muss man die Nase auch mal aus dem Buch und das Leben in die Hand nehmen. Ich weiß nicht, wer von diesem Titel ungerührt bleiben kann. Jedenfalls niemand der/die gerne liest.

»Mithu Sanyal über Emily Brontë« – Mithu Sanyal (Kiepenheuer & Witsch) _ In diese neue Reihe »Bücher meines Lebens« (Hrsg. Volker Weidermann) habe ich erst nur mit halben Auge hineingestöbert, nur um völlig begeistert wieder daraus aufzutauchen. Was für ein Buch! Es verbindet neue, kluge Interpretationsansätze mit persönlicher Liebe zu diesem Werk. Gossip und symphatisches Nerdtum stehen gleichberechtigt neben fundierter Literaturanalyse und Gesellschaftskritik. Das Teilen von so viel Liebe zum Lesen lässt einen nur staunend und neugierig zurück. Natürlich stecke ich jetzt selber Mitten in Heathcliffs und Cathys Jahrhundertdrama, höre den ganzen Tag Kate Bush und will unbedingt nochmal »Wuthering Heights« von Andrea Arnold gucken.

»Es gibt nur uns« – Moritz Wienert (Jaja Verlag) _ Ein Mensch, ein Schwein und eine Ziege versuchen sich den Traum von Gemeinschaft und Autarkie zu erfüllen. Diese aufs wesentliche reduzierte Geschichte vom Scheitern mit Ansage entlarvt mit bissigem Humor das irritierende Verklären des Landlebens. Es war nicht alles schön! Ein gute Erweiterung des Themas, wenn man zb gerne »Bodentiefe Fenster« von Anke Stelling gelesen hat.

Hans:

»Ducks« – Kate Beaton (Drawn & Quarterly) Um ihre Studienkredite abzubezahlen arbeitete Kate Beaton für zwei Jahre in den „Oilsands“ im kanadischen Alberta. Diese Zeit beschreibt sie in „Ducks“ schonungslos, aber ohne moralischen Unterton. Das teilweise harte Buch überzeugt auf mehreren Ebenen, erzählt kanadische Geschichte ebenso wie das Leben einer armen Studentin aus Nova Scotia. Fragen nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, die dem zugrunde liegen, stellen sich fast zwangsläufig.
(Scheinbar scheint die ehemalige Mitgliedschaft in der Ateliergemeinschaft „Pizza Island“, mit z.B. Julia Wertz oder Lisa Hanawalt, auch Jahre danach fast automatisch zu herausragenden Comics zu führen).

»Dog Biscuits« – Alex Graham (Fantagraphics) Begonnen als Instagram-Soap in Coronazeiten wurde aus den kurzen Episoden ein dicker Wälzer, der das Drama um Gussy, Rosie und Hissy beschreibt. Graham meinte, sie hätte verschiedene Anteile ihrer Persönlichkeit in drei Figuren gepackt und diese (während der Pandemie) miteinander kommunizieren und interagieren lassen. Dass dabei sehr schöne und witzige, aber ebenso auch ziemliche dumme und tragische Momente herauskommen, verwundert nicht. Diese Widersprüchlichkeiten muss man erst mal so gut erzählt bekommen. Und nicht nur um die Liebe und das Leben geht es, auch politisch findet das alles nicht im luftleeren Raum statt.

»Acting Class« – Nick Drnaso (D&Q – Aufbau) „Sabrina“, der ausgezeichnete Vorgängerband von Nick Drnaso war kein Zufallstreffer, auch mit seiner neuen Graphic Novel werden Standards gesetzt. Literarisch könnte man das Werk nennen, die komplexen Beziehungen der vielen Charaktere (eine befreundete Comickünstlerin zeichnete die Figuren und ihre Verbindungen auf eine Übersichtsseite, um den Durchblick zu behalten) entwickeln sich ständig weiter. Manch soziologische Arbeit hat weniger über die aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu sagen. Das Bedürfnis nach Erlösung, der Hang zu Verschwörungstheorien, die gesellschaftliche Isolation der Menschen und viele andere Fragen werden thematisiert. Ein großer amerikanischer Comicroman.

»Who will make the Pancakes« – Megan Kelso (Fantagraphics) In variierenden, oldschoolig cartoonhaften, aber immer frischen Zeichenstilen präsentiert Megan Kelso kurze Geschichten, die in ihrer Intensität und Tiefe an die Romanautorin Alice Munro erinnern. Auf nur wenigen Seiten erfährt man Kluges und Nachdenkliches über die verworrenen, schönen und traurigen Seiten des Lebens. Es sind zudem sehr warme Geschichten ohne sich dem Kitsch auch nur zu nähern.

»Starkes Ding« – Lika Nüssli (Edition Moderne) Die Schweizer Künstlerin hat ein Buch über die Kindheit ihres Vaters gezeichnet, der als junger Bub an einen Bauernhof „abgegeben“ wurde, um dort zu schuften. Die Armut schien die Familie zu diesem Schritt zu zwingen. Nüssli gelingt es dabei, diese Zeit in Bilder zu fassen, die der Sprachlosigkeit dieser Generation entsprechen. Gleichzeitig erzählt sie mit reduziertem Strich sehr viel über die körperlichen Strapazen und emotionalen Herausforderungen, aber auch darüber, dass man seinem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert sein muss. Ein tolles Buch jenseits von jeglicher Verklärung.