Unsere zehn Lieblingstitel 2022

Was war das wieder für ein crazy Comicjahr! So viele beeindruckende Neuveröffentlichungen. Da fällt die Auswahl sehr schwer. Die Liste könnte auch locker 30 Titel umfangen. Hier wollen wir euch zehn Titel ans Herz legen, die uns ganz besonders berührt haben und die Eure Aufmerksamkeit verdienen, falls Ihr sie bisher verpasst haben solltet.

Gesine:

»Madame Choi und die Monster« – Sheree Domingo & Patrick Spät (Edition Moderne) _ Hach, was für ein Comic! Und nicht nur einer – es ist auch noch ein Comic im Comic. Das Buch ist wunderschön gestaltet – mit Poster als Umschlag und mit einer Optik, die perfekt zum Inhalt passt. Mit Liebe zum Detail. Toll recherchiert und geschrieben und für alle Leute, die sich für Zeitgeschichte interessieren ein Muss.

»Baby Blue« – Bim Eriksson (Luftschacht) _ Als Margarete Atwood Fan bin ich natürlich immer interessiert an dystopischen Geschichten. In diesem Comic aus Schweden ist die pandemische Grundstimmung und die damit einhergehende Beschäftigung mit unser aller psychischer Gesundheit klug in einen rasanten Thriller verpackt. Inklusive Widerstandsbewegung und anderer wichtiger Themen.

»Mina« – Matthew Forsythe (Rotopol) _ Ein entzückendes Buch. Mina ist ein kleiner Buchnerd, sehr schlau und leicht introvertiert (und eine Maus). Aber wenn da doch was nicht stimmt in der Außenwelt, dann muss man die Nase auch mal aus dem Buch und das Leben in die Hand nehmen. Ich weiß nicht, wer von diesem Titel ungerührt bleiben kann. Jedenfalls niemand der/die gerne liest.

»Mithu Sanyal über Emily Brontë« – Mithu Sanyal (Kiepenheuer & Witsch) _ In diese neue Reihe »Bücher meines Lebens« (Hrsg. Volker Weidermann) habe ich erst nur mit halben Auge hineingestöbert, nur um völlig begeistert wieder daraus aufzutauchen. Was für ein Buch! Es verbindet neue, kluge Interpretationsansätze mit persönlicher Liebe zu diesem Werk. Gossip und symphatisches Nerdtum stehen gleichberechtigt neben fundierter Literaturanalyse und Gesellschaftskritik. Das Teilen von so viel Liebe zum Lesen lässt einen nur staunend und neugierig zurück. Natürlich stecke ich jetzt selber Mitten in Heathcliffs und Cathys Jahrhundertdrama, höre den ganzen Tag Kate Bush und will unbedingt nochmal »Wuthering Heights« von Andrea Arnold gucken.

»Es gibt nur uns« – Moritz Wienert (Jaja Verlag) _ Ein Mensch, ein Schwein und eine Ziege versuchen sich den Traum von Gemeinschaft und Autarkie zu erfüllen. Diese aufs wesentliche reduzierte Geschichte vom Scheitern mit Ansage entlarvt mit bissigem Humor das irritierende Verklären des Landlebens. Es war nicht alles schön! Ein gute Erweiterung des Themas, wenn man zb gerne »Bodentiefe Fenster« von Anke Stelling gelesen hat.

Hans:

»Ducks« – Kate Beaton (Drawn & Quarterly) Um ihre Studienkredite abzubezahlen arbeitete Kate Beaton für zwei Jahre in den „Oilsands“ im kanadischen Alberta. Diese Zeit beschreibt sie in „Ducks“ schonungslos, aber ohne moralischen Unterton. Das teilweise harte Buch überzeugt auf mehreren Ebenen, erzählt kanadische Geschichte ebenso wie das Leben einer armen Studentin aus Nova Scotia. Fragen nach den gesellschaftlichen Verhältnissen, die dem zugrunde liegen, stellen sich fast zwangsläufig.
(Scheinbar scheint die ehemalige Mitgliedschaft in der Ateliergemeinschaft „Pizza Island“, mit z.B. Julia Wertz oder Lisa Hanawalt, auch Jahre danach fast automatisch zu herausragenden Comics zu führen).

»Dog Biscuits« – Alex Graham (Fantagraphics) Begonnen als Instagram-Soap in Coronazeiten wurde aus den kurzen Episoden ein dicker Wälzer, der das Drama um Gussy, Rosie und Hissy beschreibt. Graham meinte, sie hätte verschiedene Anteile ihrer Persönlichkeit in drei Figuren gepackt und diese (während der Pandemie) miteinander kommunizieren und interagieren lassen. Dass dabei sehr schöne und witzige, aber ebenso auch ziemliche dumme und tragische Momente herauskommen, verwundert nicht. Diese Widersprüchlichkeiten muss man erst mal so gut erzählt bekommen. Und nicht nur um die Liebe und das Leben geht es, auch politisch findet das alles nicht im luftleeren Raum statt.

»Acting Class« – Nick Drnaso (D&Q – Aufbau) „Sabrina“, der ausgezeichnete Vorgängerband von Nick Drnaso war kein Zufallstreffer, auch mit seiner neuen Graphic Novel werden Standards gesetzt. Literarisch könnte man das Werk nennen, die komplexen Beziehungen der vielen Charaktere (eine befreundete Comickünstlerin zeichnete die Figuren und ihre Verbindungen auf eine Übersichtsseite, um den Durchblick zu behalten) entwickeln sich ständig weiter. Manch soziologische Arbeit hat weniger über die aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu sagen. Das Bedürfnis nach Erlösung, der Hang zu Verschwörungstheorien, die gesellschaftliche Isolation der Menschen und viele andere Fragen werden thematisiert. Ein großer amerikanischer Comicroman.

»Who will make the Pancakes« – Megan Kelso (Fantagraphics) In variierenden, oldschoolig cartoonhaften, aber immer frischen Zeichenstilen präsentiert Megan Kelso kurze Geschichten, die in ihrer Intensität und Tiefe an die Romanautorin Alice Munro erinnern. Auf nur wenigen Seiten erfährt man Kluges und Nachdenkliches über die verworrenen, schönen und traurigen Seiten des Lebens. Es sind zudem sehr warme Geschichten ohne sich dem Kitsch auch nur zu nähern.

»Starkes Ding« – Lika Nüssli (Edition Moderne) Die Schweizer Künstlerin hat ein Buch über die Kindheit ihres Vaters gezeichnet, der als junger Bub an einen Bauernhof „abgegeben“ wurde, um dort zu schuften. Die Armut schien die Familie zu diesem Schritt zu zwingen. Nüssli gelingt es dabei, diese Zeit in Bilder zu fassen, die der Sprachlosigkeit dieser Generation entsprechen. Gleichzeitig erzählt sie mit reduziertem Strich sehr viel über die körperlichen Strapazen und emotionalen Herausforderungen, aber auch darüber, dass man seinem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert sein muss. Ein tolles Buch jenseits von jeglicher Verklärung.